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Gesund aufwachsen mit Medien

Das Interview mit release-Suchtpräventionsberater Patrick Ehnis zum Vortrag am Mittwoch, 21. Mai, der in der Aula der Grundschule Brinkum, Feldstraße, um 19:30 Uhr beginnt. Eike Wienbarg Redakteur der Regionalen Rundschau, Weser Kurier, sprach mit dem Experten über den Vortrag und in welchem Umfang Jugendliche Soziale Medien nutzen. Zudem wird beleuchtet was Eltern tun können, um den Konsum von Medien effektiver zu begleiten und so mögliches Suchtverhalten zu erkennen. Das gesamte Interview unter https://ezeitung.weser-kurier.de/titles/weserkurier/6599.

„Medienregeln wachsen mit den Kindern“

Das Interview: Patrick Ehnis von release über das Verhalten des Nachwuchses im digitalen Bereich

Herr Ehnis, die Nutzung von Medien und des Internets, vor allem der Sozialen Netzwerke, gehört für viele Kinder und Jugendliche mittlerweile zum Alltag. Ab wann ist ein Nutzungsverhalten als kritisch zu bezeichnen und gibt es Zahlen dazu?

Patrick Ehnis: Laut Untersuchungen des Deutschen Zentrums für Suchtfragen im Auftrag der DAK nutzen Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren zu 4,7 Prozent Soziale Medien, zu 2,6 Prozent Streaming-Portale und zu 3,4 Prozent digitale Spiele pathologisch, das heißt im Grunde abhängig. Dies sind allerdings Daten einer Fragebogenerhebung und nicht aufgrund von klinischen Diagnosen. Dennoch zeigt es die enorme Problematik der Mediennutzung. Riskant, also deutlich zu viel, nutzen demnach sogar circa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen Soziale Medien. Ein pathologisches Verhalten ist dabei nicht in erster Linie eine Frage der Medienzeit. Ein Warnsignal ist, wenn ein Kind regelmäßig nicht aufhören kann, Medienregeln ständig unterläuft und sehr gereizt und aggressiv reagiert, wenn auf deren Einhaltung bestanden wird. Ein wichtiges Warnsignal ist vor allem der Verlust anderer Interessen und Aktivitäten in der analogen Welt, wie zum Beispiel der Sport, Freunde oder Freundinnen, Musik oder Ähnliches. Kritisch ist auch, wenn Schlafzeiten nicht eingehalten werden. Und wenn sich diese Verhaltensweisen nicht als eine Phase, sondern als länger anhaltender Zustand darstellen. Das Nutzungsverhalten hängt auch von gesellschaftlichen Faktoren ab. So war die Mediennutzung während der Corona-Zeit noch höher und ist seitdem wieder leicht rückläufig.

Welche Gefahren lauern gerade für Kinder und Jugendliche im Internet und bei Medien?

Natürlich sind Gefahren immer auch abhängig vom Alter der Kinder. In unseren Medienprojekttagen sind die Kinder meist zwischen zehn und zwölf Jahre. Ich bin überrascht, wie gut sie aufzählen können, was ihnen gefällt, aber auch was eventuell schwierig ist an einem Medienkonsum und wie oft bereits von eigenen, negativen Erfahrungen berichtet wird: nicht aufhören können, Chat-Gruppen, die aus dem Ruder laufen, Mobbingerfahrungen, versehentlich getätigte Einkäufe, Chats mit fremden Erwachsenen, Fake News, Gewalt- und Pornovideos. Die schwierigen Seiten der Mediennutzung sind ihnen durchaus bekannt. Eine Gefahr, die Kinder und Jugendliche für sich noch nicht so gut reflektieren können, ist, was der permanente soziale Vergleich und eine weitgehend geschönte oder aber auch immer nur lustige und abwechslungsreiche mediale Dauerberieselung mit ihnen und ihren Emotionen machen. Studien zeigen, dass die intensive Nutzung von Sozialen Medien auch mit Depressionen und sozialen Ängsten einhergeht, weil der permanente soziale Vergleich mit der ganzen Welt nicht guttut und ein beständiges Gefühl hinterlässt, nicht zu genügen. Eine Gefahr der schnellen Bedürfnisbefriedigung durch digitale Medien ist sicherlich die des Kontrollverlusts, der Zwang eine App immer wieder nutzen zu müssen, gerade Apps wie Tiktok und Youtube-Shorts bieten einen großen Anreiz der schnellen Ablenkungen. Die Fähigkeit, Langweile auszuhalten, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren und eigene kreative Ideen des Zeitvertreibs zu erfinden, leiden darunter. Hiervor sollten vor allem jüngere Kinder geschützt werden.

Ist diese Gruppe besonders freigiebig mit ihren Daten?

Insgesamt ist die Frage nach dem Datenschutz eine sehr schwierige und kaum individuell zu lösen. Hier müsste es gesellschaftliche Standards für Apps und Plattformen geben, die alle Nutzer vor Datenmissbrauch schützen. Wer von uns liest denn schon so genau, was die einzelnen Apps mit unseren Daten alles machen dürfen? Und wenn jemand den Zugriff nicht erlauben möchte, funktioniert meist die App auch nicht. Ich glaube nicht, dass Kinder hier sorgloser umgehen als ihre Eltern oder ihr sonstiges soziales Umfeld. Viele Kinder im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren gehen sogar eher vorsichtig mit ihren persönlichen Daten um, posten noch nicht allzu viel, gamen nicht unter ihren echten Namen und teilen Bilder nur mit Freundinnen und Freunden. Allerdings ist dies auch eine Frage des Elternhauses. Eltern neigen häufig dazu, das Recht auf das eigene Bild bei ihren Kindern nicht sehr ernst zu nehmen, und sind sehr freigiebig, Bilder ihrer Kinder zu posten. In unserem Workshop geht es daher auch darum, die Kinder mit ihren Rechten zu stärken.

Das Thema Cyber-Mobbing ist in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem Problem geworden. Wie können sich Kinder und Jugendliche davor schützen?

Häufig ist eine Mobbingerfahrung heutzutage eine Erfahrung von Mobbing, zum Beispiel in der Schule, und Cyber-Mobbing, welches sich dann im Internet, in Chat-Gruppen und so weiter fortführt. Das ist höchst belastend. Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht und es kann auch potenziell alle treffen. Der wichtigste Schutz ist, das Kind zu stärken, dass es sich nicht schämt, sondern den Mut aufbringen kann, sich Hilfe zu holen – am besten von Erwachsenen, denen es vertraut. Und dass es Erwachsene gibt, die Probleme ernst nehmen und Unterstützung anbieten. Daneben gibt es auf App- und Plattformebene natürlich die Möglichkeit, zu melden, zu blockieren und Löschungen zu beantragen. Präventiv kann etwas getan werden, indem in den Schulen frühzeitig thematisiert wird, was Cybermobbing ist, was auch im Netz verboten ist und bestraft werden kann und wie eine angemessene Kommunikation im Internet und in Chatgruppen funktionieren kann, damit es nicht zu Online-Hassspiralen kommt.

Gerade rechtspopulistische Parteien scheinen in den Sozialen Medien bei jungen Menschen auf Anklang zu stoßen. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Eine Erklärung könnte sein, dass klare, einfache Identitätsangebote – zum Beispiel deutsch, weiß, männlich – leichter in die Struktur Sozialer Medien passen als komplizierte Analysen komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse. Insbesondere für junge Männer könnte das ein attraktives Angebot sein. Der Algorithmus Sozialer Medien scheint darüber hinaus Posts hoher Radikalität und Konfliktpotenzials zu bevorzugen. Darüber hinaus gelingt es rechtspopulistischen Parteien, ihren Kampf um die Macht als Kampf gegen das korrupte Establishment zu labeln. Das scheint auch für viele eine Attraktion zu haben, die sicherlich nicht davon profitieren werden, wenn diese Parteien wirklich an die Macht kommen.

Welche Rolle spielt die Künstliche Intelligenz (KI) im Medienverhalten der Kinder?

Kinder und Jugendliche nutzen KI-Programme eventuell selbstverständlicher als Erwachsene. Meiner Erfahrung nach nutzen sie zum Beispiel Chat-GPT wie eine Internetfrage. Die Antwort wird schon stimmen, nach der Quelle wird dann nicht mehr gefragt. Texte können so sehr leicht „selbst“ geschrieben werden. Eine wichtigere Rolle spielen zunehmend auch bildgenerierende KI in der Verfremdung eigener Bilder oder der Erzeugung von Bildmaterialien. Auf der Nutzerseite sind Fake News zunehmend schwerer zu erkennen, da auch Video- und Audiomaterial immer besser gefakt werden kann. Quellenkritik und die Erkennung von Fake News werden gerade für die gesamte Gesellschaft zu einer wichtigen Aufgabe. Wo KI natürlich auch eine wichtige Rolle spielt, ist im Hintergrund. Die Algorithmen, die das nächste Video bestimmen, Daten, die gesammelt und weitergegeben werden, oder Werbung, die beeinflussen soll, alles wird zielgenauer. Auch der Umgang damit ist jedoch einer, der Erwachsene wie Kinder betrifft.

Wie können Eltern ihre Kinder auf mögliche Gefahren vorbereiten und welche Grenzen sind für ein gesundes Medienverhalten sinnvoll?

Das Thema Medien sollte von Anfang an durch Familienregeln und Interesse begleitet sein. Regeln werden von den Kindern und Jugendlichen durchaus auch als Fürsorge erlebt. Regeln sollten für die Kinder jedoch nachvollziehbar und immer wieder auch verhandelbar sein. Die Medienregeln wachsen so mit den Kindern mit. Regeln sollten auch den Nutzungsgewöhnungen entsprechen, zum Beispiel besser noch zwei Spiele als eine strikte Zeitregel, weil mitten im Spiel wird niemand gerne unterbrochen. Eltern sollten sich darüber hinaus immer bewusst sein, dass Kinder auch am Modell lernen, also bereit sein, ihr eigenes Medienverhalten am Essenstisch, beim Schlafengehen oder während Gesprächen reflektieren. Eine große Herausforderung. Zentral ist auch, dass das Kind mit problematischen Dingen immer zu einem Elternteil kommen kann und dann Unterstützung erfährt und keine Angst hat vor Strafe oder Abwertung. Auch beim Thema Medien ist daher grundsätzlich wichtig, dass Eltern zu ihren Kindern eine verlässliche, vertrauensvolle Bindung haben. Denn ab einem gewissen Alter kann kein Elternteil, auch keine pädagogische Fachkraft, kontrollieren, was alles ein Jugendlicher oder junger Erwachsener auf seinem Smartphone erlebt oder auch erleben muss.

Was wünschen sich Kinder in dieser Hinsicht von ihren Eltern?

Regeln haben etwas mit Fürsorge zu tun. Das ist Kindern durchaus klar. Im Grunde wünschen sie sich, dass Eltern für sie da sind, wenn etwas problematisch ist, aber auch einen gewissen Freiraum, um die digitale Welt selbst zu entdecken.

Wie können Medien auch positiv für die Entwicklung des Nachwuchses sein?

Medien bieten die Möglichkeiten des Austauschs, des sozialen Kontakts, es können schnell Infos zu Hobbys geholt werden oder auch Gruppen und Freunde gefunden werden, die eigene Interessen teilen. Spiele bieten Herausforderungen und brauchen Strategien und Absprachen, öfter wird auf Englisch kommuniziert oder Filme im Original geschaut, Lern-Apps helfen beim Unterricht, Erklärvideos helfen beim Unterrichtsstoff. Über Bildbearbeitung und Filmschnitt kann viel über die soziale Konstruktion von Wirklichkeit gelernt werden. Internet-Medien bieten sicherlich auch viele Bildungschancen.

Wo finden betroffene Kinder und Jugendliche, aber auch deren Eltern, Hilfe?

Wie bei anderen Verhaltensauffälligkeiten auch, ist es nicht ganz leicht, zu spüren, ob der Medienkonsum noch altersangemessen, gesellschaftlich normal, für das Kind unschädlich oder schon zu viel, riskant oder sogar süchtig ist. Bei ernsten Sorgen können Erziehungsberatungsstellen oder auch die Beratung bei Release anonym und kostenlos aufgesucht werden.

Welche Botschaft möchten Sie bei Ihrem Vortrag in Brinkum vermitteln?

Konflikte zur Mediennutzung gibt es in fast jeder Familie und gehören dazu. Niemand muss perfekt sein. Die Begleitung des Medienkonsums von Kindern und Jugendlichen ist eine sehr wichtige Aufgabe für Eltern, für Schule und für die gesamte Gesellschaft.

Das Interview führte Eike Wienbarg.

ZUR SACHE

Vortrag in Brinkum

Anlässlich der Veranstaltungsreihe Werkstatt Erziehung der Ambulanten Kinder- und Jugendhilfen Stuhr spricht Patrick Ehnis am Mittwoch, 21. Mai, ab 19.30 Uhr zum Thema „Gesund aufwachsen mit Medien“. Der Vortrag findet in der Aula der Grundschule Brinkum, Feldstraße 15, statt, die ausschließlich über den Parkplatz an der Meyerstraße erreichbar ist. Anmeldungen nimmt die Volkshochschule (VHS) des Landkreises Diepholz unter der Rufnummer 0 42 42 / 9 76 44 44 und der Kursnummer 03105003 entgegen. Organisiert und moderiert wird die Reihe von Maren Friedel und Tanja Sievers. Beim nächsten Termin am 25. Juni geht es um das Thema „Hochsensible Kinder verstehen und begleiten“.

ZUR PERSON

Dr. Patrick Ehnis

ist seit 2019 Suchtpräventionsberater beim Stuhrer Verein Release. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an diversen Hochschulen und Universitäten.

Eike Wienbarg

„Medienregeln wachsen mit den Kindern“